Zum Inhalt springen

Erziehungsberater zum "Gap Year" "Sitzen Jugendliche einfach daheim, entwickeln sie sich eher zurück"

Das Kind ist mit der Schule fertig, hat seinen Abschluss - und macht nichts. Hängt einfach ab. Es gebe Eltern, die dann einen großen Fehler machten, sagt der Erziehungsberater Jürgen Wolf.

Sie reisen auf eigene Faust um die Welt, jobben mal hier und mal da, machen sich mehr oder weniger gut mit beruflichen Perspektiven oder Studiengängen vertraut: Viele Jugendliche nehmen nach der Schule erst einmal ein "Gap Year", also eine einjährige Auszeit.

Doch was, wenn der Nachwuchs gar nicht weiß, was er mit der ganzen freien Zeit anfangen soll und im schlimmsten Fall nur zu Hause auf dem Sofa hockt? Der Diplom-Psychologe Jürgen Wolf berät Eltern und Kinder in dieser Situation - und empfiehlt in vielen Fällen Zurückhaltung.

Foto: privat

Jürgen Wolf ist Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut. Er leitet die Erziehungsberatung im Evangelischen Beratungszentrum München.

SPIEGEL ONLINE: Wie sollten Eltern reagieren, wenn Kinder nach dem Abi ein "Gap Year" einlegt?

Jürgen Wolf: Es ist interessant, dass Sie "nach dem Abi" sagen. Das "Gap Year" wird meist für Abiturienten diskutiert. Es gibt dieses subjektive Gefühl, Jugendliche seien durch die Vorabi- und Prüfungszeit so gestresst, dass sie danach eine Auszeit bräuchten. Das empfinden viele Kinder und auch deren Eltern an Gymnasien so, an Haupt- und Realschulen ist das viel weniger ausgeprägt.

SPIEGEL ONLINE: Wäre denn ein "Gap Year" für alle Jugendlichen sinnvoll?

Wolf: Das kommt weniger auf die Schulform als auf den einzelnen Menschen an. Aber es kann Gold wert sein, zwischen die Schulzeit, die gerade zum Schluss oft mit viel Lernstress und Leistungsdruck verbunden war, und den Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums, einen Puffer zu legen. Das schafft Distanz und steigert oft die Motivation, danach etwas Neues zu lernen.

SPIEGEL ONLINE: Gilt das auch, wenn Kinder monatelang einfach abhängen?

Wolf: Die Schule endet meist im Juni, Juli, eine Ausbildung oder ein Studium beginnt meist im September, Oktober. Da gibt es also einen natürlichen Puffer von ein paar Wochen fürs Nichtstun, der allen Jugendlichen gegönnt sei. Danach sollten sie nicht länger zu Hause sitzen. Eine Reise, ein Sprachkurs, ein Freiwilliges Soziales Jahr, ein Au-Pair-Aufenthalt - sie können alles Mögliche machen, nur eben nicht nichts. Dann versumpfen sie.

SPIEGEL ONLINE: Kann nicht eine Pause helfen, um sich in Ruhe zu orientieren?

Wolf: Bestimmt; und dass eine längere Zeit erstmal nicht verplant ist, kommt im Leben der meisten Menschen ja auch nicht so schnell wieder. Aber Jugendliche sollten diese Zeit unbedingt nutzen, um neue Erfahrungen zu sammeln. Dann reifen sie. Sitzen sie einfach daheim, entwickeln sie sich eher zurück - und finden irgendwann den Absprung nicht mehr.

SPIEGEL ONLINE: Wie können Eltern das beeinflussen?

Wolf: Sicher nicht, indem sie schon während der Abi-Zeit dauernd fragen, was das Kind denn nun nach der Schule vorhat. Druck auszuüben hilft in der Erziehung ohnehin selten, schon gar nicht bei Heranwachsenden. Es ist auch absolut kontraproduktiv, wenn Eltern selbst aktiv werden, ständig Vorschläge machen, Freiwilligenprogramme studieren und für das Kind letztlich die Reise nach Australien buchen. Sowas habe ich schon erlebt.

SPIEGEL ONLINE: Was ist daran falsch?

Wolf: Das geht meistens schief. Ich weiß von Jugendlichen, die so eine Reise dann zum Beispiel abgebrochen haben. Die sind nur losgefahren, weil die Mutter oder der Vater das wollten, und waren überfordert. Eltern sollten Spielraum lassen, sich weitgehend aus der Planung raushalten. Sonst bremsen sie die Autonomieentwicklung und die Ablösung vom Elternhaus. Das Kind wird immer unselbstständiger und "kleiner". Es wäre allerdings auch falsch zu sagen: Was du machen willst, ist mir völlig wurscht.

SPIEGEL ONLINE: Klingt nach einem schmalen Grat.

Wolf: Kinder müssen von zu Hause ausziehen, um erwachsen zu werden und sich weiterzuentwickeln. Das muss man sich klarmachen. Tun sie das nicht, wird dieser erste Schritt des Erwachsenwerdens etwas in die Länge gezogen. Das ist an sich kein Problem, auch weil Kinder unterschiedlich schnell reifen. Einige muss man etwas länger an die Hand nehmen als andere. Eltern sollten aber freundlich die Tür öffnen und Kindern anbieten, sie bei ihren Plänen zu unterstützen - als Übergangsphase, bis sie auf eigenen Füßen stehen.

SPIEGEL ONLINE: Wie kann das konkret aussehen?

Wolf: Eltern können zum Beispiel anbieten, dass sie ein sinnvolles Vorhaben, eine Reise, ein Praktikum im Ausland oder ähnliches, mitfinanzieren, wenn das Kind seinen eigenen finanziellen Beitrag dazu leistet und den selbst erwirtschaftet, etwa durch Jobben. Aber mehr sollten sie nicht machen.

SPIEGEL ONLINE: Was tun, wenn das Kind von alleine nicht in die Gänge kommt?

Wolf: Problematisch wird es, wenn dadurch die Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind sehr leidet und irgendwann richtig schlecht ist. Wenn alle nur noch voneinander genervt und ruhige Gespräche kaum noch möglich sind. Kommen Eltern in so einer Situation in die Beratung, ist es oft schon zu spät.

SPIEGEL ONLINE: Was bleibt dann?

Wolf: Das Kind hat meist schon eine starke Trotz- und Verweigerungshaltung eingenommen. Es kommt da alleine kaum noch heraus. Die Eltern versuchen Druck zu machen, sind aber in Wahrheit hilflos. Sie haben diese Fantasie: Wenn ich bei meinem Kind nur den richtigen Schalter finde und umlege, wird es aktiv. Aber diesen Schalter gibt es gar nicht.

SPIEGEL ONLINE: Was raten Sie diesen Eltern?

Wolf: Das klingt hart, aber die einzige Chance ist, das Kind rauszuwerfen. Das ist das unschönste Mittel, aber nur dann kann sich das Kind vom Elternhaus lösen, ins Leben finden - und irgendwann auch wieder eine gute Beziehung zu den Eltern aufbauen.

SPIEGEL ONLINE: Macht so ein Rauswurf nicht alles schlimmer?

Wolf: Das fragen mich die Eltern auch. Sie fürchten, dass ihr Kind dann erst recht abstürzt. Leider ist das nicht ausgeschlossen. Aber Eltern müssen erkennen: Weder sie selbst noch das Kind kommen an so einem Tiefpunkt aus der emotionalen Verstrickung heraus, wenn sie weitermachen wie bisher. Sie müssen sich daraus befreien, voneinander abgrenzen und dabei im besten Fall Hilfe von außen annehmen.

SPIEGEL ONLINE: Wann sollten Eltern zu diesem ultimativen Mittel greifen?

Wolf: Erst wenn alle anderen Versuche gescheitert sind. Vor so einem Rauswurf sollten Jugendliche und Eltern unbedingt eine Beratungsstelle aufsuchen und einvernehmliche Regelungen durch gemeinsame Gespräche finden. So eine Beratung ist kostenfrei. Erst wenn Jugendliche sich komplett verweigern und auch nicht gesprächsbereit sind, wenn die Beziehung überhaupt keine Chance mehr hat, man sich auch nicht mehr begegnet und nicht mehr miteinander kommuniziert, dann gilt das ultimative Rauswurfmittel.

SPIEGEL ONLINE: Eltern sollen also nicht vorschnell in Panik verfallen.

Wolf: Sie können sich entspannen, solange das Kind nur mal ein paar Wochen auf dem Sofa abhängt. So lange die Beziehung insgesamt gut ist, Eltern und Kind im Gespräch bleiben und Eltern das Zutrauen haben, ihr Kind brauche nur noch etwas Zeit, werde dann aber seinen Weg finden, ist alles gut. Dann können sie abwarten.

Mehr zum Thema "Gap Year" lesen Sie im Gastbeitrag des Jugendforschers Klaus Hurrelmann und im aktuellen Spiegel.