Die Generation Gap

Immer mehr junge Frauen und Männer planen nach dem Abitur ein so genanntes "Gap Year". Was treibt sie dazu und was fangen sie an mit dieser kostbaren Zwischenzeit? 

Auf dem Sprung in die große weite Welt.
Auf dem Sprung in die große weite Welt.Illustration: Berliner Zeitung/Sabine Hecher


Ausbrechen wollen sie, ausbrechen aus ihrer wattierten Welt, ihre anhänglichen Eltern einmal abschütteln und sich ganz allein durchschlagen. Ja, auch sie träumen von einem anderen Leben; aber anders als die Hippies in den siebziger Jahren sind die Abiturienten, die man vielleicht die „Gappies“ nennen könnte, nur Aussteiger auf Zeit.

Emil zum Beispiel. Er hat als Deutscher mit seinen Eltern ein paar Jahre in Brasilien gewohnt. In einem Viertel von Rio de Janeiro, wo es Springbrunnen gab, die in gepflegten Gärten vor sich hinplätscherten. Dass Brasilien ein Land der eskalierenden Gewalt ist, das wusste er nur aus der Zeitung. Doch nach dem Abi wollte er das andere Brasilien kennenlernen. Deshalb bewarb er sich bei der Freiwilligenorganisation „weltwärts“ und zog für ein Jahr in eine der ärmsten Favelas von Sao Paolo. Dort hat er sich um Straßenkinder gekümmert. Er hat mit ihnen Fußball gespielt, Hausaufgaben gemacht und von Deutschland erzählt. „Ich hab‘ viel mehr von den Kindern gelernt als die Kinder von mir“, sagt Emil. „Ich habe gesehen, wie wenig man braucht, um zu leben, aber auch, wie wichtig es ist zu teilen.“

Ich hab' viel mehr von den Kindern gelernt als die Kinder von mir. Ich habe gesehen, wie wenig man braucht, um zu leben, aber auch, wie wichtig es ist zu teilen.

Emil über sein freiwilliges soziales Jahr in Sao Paolo.

Wenn Emil abends in sein Wohnheim kam, kochte er sich Nudeln und wusch seine Wäsche. Es mag albern klingen, aber bisher hatte das immer seine Mama für ihn gemacht. Emil war glücklich, diese Dinge jetzt selbst zu übernehmen. Zu seinen Eltern hat er gutes Verhältnis; gerade deshalb versuchte er, sich so selten wie möglich zu melden. Wenn er nicht zu müde war, lernte er bis Mitternacht Portugiesisch oder ging ins Internet, um sich die Webseiten von verschiedenen Universitäten anzusehen. Damals hatte Emil noch keine Ahnung, was er studieren sollte und brauchte dringend Zeit, um ungestört nachzudenken.

Der Wunsch nach Entschleunigung

Den Wunsch nach Entschleunigung der eigenen Bildungsbiographie teilt Emil mit vielen jungen Leuten. „Gap Year“ heißt das Zauberwort dieser Generation, denn es beschwört und bändigt all ihre Nöte, Ambitionen und Sehnsüchte. Bei einer repräsentativen Umfrage des Trendence-Instituts unter 21 000 Schülern, wollten nur 44 Prozent direkt nach dem Abitur ein Studium aufnehmen. 56 Prozent planten zunächst ein Jahr Pause, die große Mehrheit von ihnen im Ausland.

Zugegeben, die Wahl des Studienfachs ist von einer gewissen existentiellen Tragweite. Aber warum fällt sie den Abiturienten heute so ungeheuer schwer? Ein wichtiger Grund ist natürlich G8, die Verkürzung der Gymnasialzeit: Der Stoff von G9 muss in weniger Zeit gebüffelt werden. Der Unterricht reicht bis tief hinein in die Nachmittage, für ein außerschulisches Leben bleibt kaum noch Atem. Außerdem sind die Schüler einfach jünger und fühlen sich mit ihren siebzehn Jahren oft nicht reif für den Schritt an die Universität.

Der flammende Idealismus der Bewegung „fridays-for-future"

Früher haben die Eltern oft die Ausbildung ihrer Kinder bestimmt. Heute verfolgen sie lieber einen individualistischen Ansatz, und als Sohn oder Tochter ist man sozusagen dazu verurteilt, frei zu sein. Hinzu kommt die Vielfalt der Möglichkeiten, die oft eine lähmende Wirkung auf unsere Kinder hat. Allein in Deutschland werden 10 000 grundständige Studiengänge angeboten. Aber welcher ist der richtige? Die Explosion der Optionen steigert ihre Angst, sich falsch zu entscheiden, steigert die Gier, alles auf einmal zu wollen, und erschwert, sich mit einer einzigen Studienrichtung zufrieden zu geben. Mit dem Wohlstand wachsen die Ansprüche: Das Studium muss hinführen zu einem Job, in dem man gut verdient, sich selbst verwirklicht - und außerdem ganz nebenbei noch die Welt rettet. Hier zeigt sich der flammende Idealismus der Bewegung „fridays-for-future“, aber auch eine mächtige Prägung durch die Konsumgesellschaft.

Viele Eltern der deutschen Mittelschicht sind nach dem Pisa-Schock in eine Art Bildungspanik verfallen, ständig besorgt, dass die eigenen Kinder nicht gerüstet sein könnten für den internationalen Arbeitsmarkt. Die heutigen Abiturienten haben also ein überdeutliches Bewusstsein dafür, dass sie in eine gute Ausbildung investieren, Fremdsprachen beherrschen und über interkulturelle Erfahrungen verfügen sollten. Diesen Auftrag haben sie verinnerlicht, und deshalb denken sie selbst bei den wildesten Gap-Year-Settings daran, wie das hinterher wohl auf ihrem Lebenslauf aussieht.

Die Grand Tour als Chance

Der hat natürlich auch eine Grand Tour gemacht: Goethe in der Campagna. Fehlt nur noch die Weinflasche zu seinen Füßen.
Der hat natürlich auch eine Grand Tour gemacht: Goethe in der Campagna. Fehlt nur noch die Weinflasche zu seinen Füßen.Johann Heinrich Wilhelm Tischbein/Wikipedia/Sammlung Städel Museum

Die Idee eines Lückenjahrs ist nicht neu. Schon seit der Renaissance existiert die Tradition der „Grand Tour“, einer Bildungsreise für die Söhne des europäischen Adels und gehobenen Bürgertums durch Südeuropa oder ins Heilige Land. Sie sollte der Erziehung der Zöglinge den letzten Schliff geben, Wissen und Sprachkenntnis vertiefen, für neue Eindrücke und - unausgesprochen - wohl auch für das Erlangen einer gewissen erotischen Erfahrung sorgen.

Nur wenige konnten sich so etwas leisten. Heute ist die Grand Tour für immer größere Teile der deutschen Mittelschicht in Reichweite. Eine erstaunliche Entwicklung, die unseren Wohlstand sichtbar macht und das bereits erreichte Ausmaß der Globalisierung. Neu ist, dass inzwischen auch junge Frauen die Chance haben, so ihren Horizont zu erweitern – sich selbst in der Welt und die Welt in sich zu finden. Sie gehen als Au pair nach Kanada, machen work & travel in Australien, unternehmen eine Rucksackreise nach China.

Während diese Varianten der Grand Tour vorwiegend der Selbstoptimierung dienen, hat das freiwillige soziale Jahre auch den Impuls des Helfenswollens, der Solidarität mit den Armen und Notleidenden dieser Welt. Ich kenne junge Erwachsene, die sich um Waisenkinder in Tansania kümmern, um Schwerbehinderte im Libanon und um Flüchtlinge auf Sizilien.

Sogar der Staat engagiert sich, wenn das Gap Year mit sozialer Arbeit kombiniert wird. Der Freiwilligendienst „weltwärts“ wird zum Beispiel vom Bundesministerium für Entwicklung finanziert. Seit Gründung im Jahr 2008 sind bald 40 000 Freiwillige ausgeschwärmt, um anderen und natürlich auch sich selbst bei der Entwicklung zu helfen.

Manche zweifeln, spotten, das sei doch nichts weiter als ein „Egotrip ins Elend“. Gut ausgebildete Helfer könnten viel mehr ausrichten als Leute, die frisch von der Schule kommen. Aber eine großangelegte Evaluierung von „weltwärts“ zeigt, dass die Abiturienten durchaus Sinnvolles leisten können und viele wertvolle Einsichten in ihre Heimatländer zurücktragen. Deshalb will die Organisation ihre Zielgruppe erweitern und auch Jugendliche ansprechen, die kein Abitur und keine Akademiker-Eltern haben.

Aha-Erlebnis garantiert?

Doch weder Grand Tour noch soziales Jahr garantieren eine Klärung in der anstehenden Studienfach,- und Berufsfrage. Man muss nicht, wie die Tochter eines befreundeten Architekten-Paares auf einem Gipfel des Himalaya sein großes Aha-Erlebnis haben: Ich werde Umwelttechnik studieren! Manchmal kommt dieses Evidenz-Erlebnis, meistens nicht. Und dann steigen unsere mutigen Backpacker vom Himalaya herunter, stehen nach einem Jahr wieder am Berliner Flughafen, von den erleichterten Eltern in Empfang genommen, und wissen immer noch nicht, was sie studieren wollen.

Oft reicht es nicht, irgendwo im Abseits über das richtige Studienfach zu grübeln. Man braucht Informationen, Gespräche mit Menschen, die sich auskennen. Wenn man nicht weiß, ob man nun Geschichte oder VWL studieren will, dann sollte man beides ausprobieren. Eine soziale Arbeit ist gut, hilft da aber nicht unbedingt weiter. Es sei denn, es gibt einen direkten Zusammenhang – zum Beispiel, wenn eine junge Frau durch Care-Arbeit in einem tansanischen Kinderheim herausfindet, dass sie gerne Sonderpädagogik studieren würde.

Glücklich als Couch-Potatoe zu Hause?

Nicht alle, die den Mut zur Lücke haben, gehen auf Reisen. Manche bleiben auch einfach zu Hause und genießen nach dem Turbo-Abi das Nichtstun. Erst mal ausspannen, zu sich kommen. Doch Vorsicht! Das Couch-Potatoe-Dasein mit Zeit im Überfluss und Tagen ohne Plan, Struktur und sinnvollen Aufgaben hat seine Tücken. Das zeigt das Buch der neunzehnjährigen Olga Rogler mit dem sprechenden Titel „Jetzt chill‘ ich erst mal und dann mach‘ ich NICHTS.“ Dort beschreibt sie ihr Gap Year im Elternhaus, und wie sie ihre Planlosigkeit zunächst genießt, dann aber in eine kleine Depression verfällt. Sie steht spät auf, sieht nächtelang Netflix-Serien, treibt sich in den sozialen Netzwerken herum und fängt an, all jene Streber und Streberinnen zu beneiden, die sich rechtzeitig für etwas Bestimmtes beworben haben.

Beispiele für seriöse Organisationen, die ein freiwilliges soziales Jahr im Ausland mitfinanzieren und durch  Sprachkurse, kluge Seminare und Mentorengespräche begleiten: 
weltwärts, Internationaler Jugendfreiwilligendienst (IJFD),
Europäischer Freiwilligendienst (EFD),
das Freiwilligenprogramm des  Berliner Missionswerks. 

Für die Eltern von Olga ist dieser Zustand bisweilen schwer auszuhalten. Sollen sie ihre Tochter in Ruhe lassen oder ihr helfen, etwas Vernünftiges zu organisieren? Sollen sie ihr gar einen Ausbildungsweg diktieren, damit sie die Chance hat zu rebellieren? Die Generation Gap ist eine behütete und ja, vielleicht auch etwas verwöhnte Generation. Sie hat ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu ihren Eltern, darf seit frühster Kindheit mitdiskutieren und ist es gewohnt, in allen privaten und politischen Angelegenheiten gefragt zu werden. Sie hat eine beeindruckende Selbständigkeit des Denkens und Meinens ausgebildet, ist aber eher hilflos im praktischen Handeln.

Selten haben sie Weisungen empfangen, selten zu Hause mitgeholfen. Eigentlich fanden sie nichts dabei, sich von ihren Eltern bis ins späte Teenie-Alter bedienen zu lassen. Zugleich ahnen sie, dass es eine große Befreiung sein könnte, selbst einmal zu dienen, sich im Dienst einer größeren Gemeinschaft als nützlich und kompetent zu erleben. Denn im Gefolge von G8 kam nicht nur eine Verkürzung, sondern auch eine Verflachung von Schule. Die sorgt dafür, dass unsere Kinder es nach dem Abi erst einmal gründlich satt haben, Fertig-Wissen in sich hineinzustopfen. Sie hungern danach, als ganze Menschen gefordert zu sein. Nichts wünschen sie sich sehnlicher, als sich einmal durchschlagen zu dürfen in irgendeinem entlegenen Winkel dieser Erde, wo die Tentakeln der elterlichen Zuwendung sie nicht erreichen.

Lassen wir sie ziehen!

Ausblick: In den nächsten Wochen wollen wir verschiedene Abenteuer der Generation Gap erzählen. Die Abenteurer und ihre Eltern haben das Wort.